Verloren

Leben ist Bewegung.

Bewegung ist Veränderung.

Veränderung beinhaltet Neues.

Neues erfordert Altes.

Altes verwandelt sich.

Verliert sich.

Verlust ist Leben.

Als Tänzerin und Choreographin widme ich mich in meiner täglichen Praxis diesem Verlust. Die nächste Bewegung kann nur erfolgen, wenn die vorherige endet. Originäre Choreographien entstehen im Bewusstsein von Tradition: das Alte würdigen, verändern, verabschieden. Ges­ten-Zitate können sich wie Erinnerungs-Bild­chen in eine neue Kreation einschleichen. Manchmal bewusst – oft auch unbewusst.

Ich erinnere mich genau an den Moment und das Gefühl, als mir klar wurde, dass ich meinen Lieblingspullover auf einem Schulfest unwie­der­bringlich verloren habe. Ein Stechen in der Brust, ein Ziehen, das sich bis in mein Becken erstreckt. Furchtbar. Wenn ich heute ein Foto von mir in diesem Pullover sehe, steigt wohlig warme Wehmut in mir auf. Der Pullover ist immer noch da – als körperliche Empfindung und Gefühl.

Vor 17 Jahren ist mein Vater gestorben. Ich sage seine dummen Sprüche, sehe seine Füße in mei­nen Schuhen, spreche mit ihm in einer stern­klaren Nacht auf der Suche nach Satelliten, die er immer benennen konnte. Bedeutet verlieren verschwinden?

Verlust kann ein Verlies sein. Nicht nur in der Herkunft des Wortes. Anstatt in einer Ecke zu kauern, möchte ich mich in diesem Raum neu­gierig umsehen. Ich will mich dort ausbreiten und nach Löchern, Fenstern oder Türen Aus­schau halten, um meine Nase in den Wind zu halten und zu atmen. Und den Vogel bemerken, der frech zu mir hinein lugt.

Hier bin ich. Am Leben.

Kilta Rainprechter

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